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Interview: „Europa kann schneller und besser werden!"

von Lena Düpont

Lena Düpont MdEP über die Gründungsidee Europas, das Entwicklungspotenzial der Europäischen Union und die Schicksalswahl zum Europäischen Parlament

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Frau Düpont, mit Blick auf die Krisen in der Welt: Was ist Europas Hauptaufgabe?

Lena Düpont: Durch den russischen Angriffskrieg ist die Gründungserzählung eines Europas des Friedens, der Freiheit und der Stabilität aktueller denn je. Dieses existenzielle Thema wird uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren, vielleicht sogar weit darüber hinaus, intensiv beschäftigen.

 

Was leistet die Europäische Union? Wo gibt es Defizite?

Europa bietet zahllose praktische Vorteile, die für uns bereits alltäglich geworden sind, aber in anderen Weltregionen fehlen – wie das ungehinderte Reisen, die gemeinsame Währung. Aber im Kern geht es darum, Frieden, Freiheit und Stabilität zu bewahren. Seit fast achtzig Jahren herrscht Frieden zwischen den vorher oft tief verfeindeten Staaten der heutigen Europäischen Union. Wie kostbar dieser Frieden ist, erfahren wir durch die Geschehnisse in der Ukraine.

Luisa Schiffner

Seit einunddreißig Jahren gibt es einen gemeinsamen Binnenmarkt, der für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger, insbesondere aber auch für Deutschland, Wohlstand, Wachstum und Innovation ermöglicht. Es bleibt dabei: Es geht um die Verknüpfung aller Mitgliedstaaten in der Wirtschaft und um Harmonisierung in einzelnen Politikfeldern. Politische Themen, die am sinnvollsten europäisch zu lösen sind, müssen wir konsequent gemeinsam regeln. Dagegen gehören Themen, von denen wir wissen, dass eine andere politische Ebene sie genauso gut, manchmal sogar besser erfüllen kann, nicht auf die europäische Agenda. Wir müssen in Europa dringend wieder dahin kommen, dass die Stärken der Europäischen Union – etwa im Binnenmarkt –, nämlich Freiheit und Verantwortung, wieder deutlicher beachtet werden und sich angelehnt an die Soziale Marktwirtschaft und das Prinzip der Subsidiarität stärker etablieren. Das Thema Bürokratieabbau spielt hierbei eine wichtige Rolle.

 

Was sehen die neuen Regelungen nach der Reform des Asylsystems vor, und wie bewerten Sie diese?

Mit dem neuen Migrations- und Asylpaket haben wir zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Asyl- und Migrationspolitik eine gemeinsame Herangehensweise unter 27 Mitgliedstaaten. Wir werden nun viel früher eine Unterscheidung darüber treffen können, wer schutzberechtigt ist: Wer ist vor Krieg, Verfolgung und Gewalt geflohen und hat damit ein Recht auf Schutz innerhalb der Europäischen Union? Und wer kommt aus anderen Motiven in die Europäische Union, hat aber entsprechend keinen Anspruch auf Asyl? Es gibt für diese Personen ohne Schutzberechtigung andere Instrumente und Wege, möglicherweise in der Europäischen Union zu arbeiten. Das ist jedoch nichts, was das Asylrecht lösen könnte und sollte. Die Entscheidung über eine mögliche Schutzberechtigung wird künftig an der Außengrenze der Europäischen Union getroffen, sodass nur noch die Menschen innerhalb der Europäischen Union verteilt werden, die auch eine Aussicht auf Schutzberechtigung in den jeweiligen Mitgliedstaaten haben.

Die Reform des Asylsystems konzentriert sich in großen Teilen auf die innere Ordnung in der Europäischen Union. Damit werden wir einen Beitrag zur Verlässlichkeit der Mitgliedstaaten untereinander leisten. In diesem Punkt gibt es auch unter den Mitgliedstaaten eine Vertrauenskrise. Diese Vertrauenskrise zu überwinden, ist neben den inhaltlichen Säulen einer der wesentlichen politischen Pfeiler, den das Asylpaket adressiert.

 

Sollte die Europäische Union in der Klimapolitik mehr oder weniger leisten?

Wir müssen uns zuerst auf das konzentrieren, was bereits jetzt vereinbart ist. Die Europäische Volkspartei (EVP) hat immer ihre Bereitschaft bekundet, auch ambitionierte Ziele mitzutragen. Man darf dabei nur nicht aus dem Blick verlieren, wie diese Ziele in der Praxis erreicht werden können. Es ist leicht, Zahlenvorgaben auf ein Papier zu schreiben. Wenn sie aber nicht mit Marktanreizen und Unterstützung für diejenigen unterlegt werden, die die Transformation leisten sollen, dann bleiben es nur Zahlen auf dem Papier.

 

Ist Deutschland für die Wahlen zum Europaparlament am 9. Juni 2024 gut aufgestellt?

Ich würde mir wünschen, dass die europäischen Themen in der politischen Diskussion eine größere Rolle spielen. Bei der letzten Europawahl stand die Frage des Brexit im Vordergrund. Es gab eine intensive Wahrnehmung der Europäischen Union und der Art und Weise, wie wir mit dem Brexit umgehen. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn wir uns in dieser Legislaturperiode stärker auch auf institutionelle Fragen hätten konzentrieren können; stattdessen stand lange aus guten Gründen vor allem die Krisenbewältigung im Vordergrund.

Die bevorstehende Wahl wird eine Richtungsentscheidung darüber sein, wie viel Entwicklungspotenzial diese Europäische Union haben soll. Die Union ist – weiß Gott – nicht perfekt, es gibt vor allem Verbesserungspotenziale bei der institutionellen Zusammensetzung und der Arbeitsweise. Europa kann schneller, kann besser werden. Aber die Europäische Union im politischen Diskurs infrage zu stellen oder sogar über einen Dexit zu fabulieren, ist unverantwortlich. Er wäre nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und gesellschaftlich eine Katastrophe.

 

In Deutschland wurde das aktive Wahlalter von achtzehn auf sechzehn Jahre gesenkt. Ist das eine richtige Entscheidung?

Hinsichtlich des Wahlalters meine ich, dass es gute Gründe gab und weiterhin gibt, es an die Volljährigkeit zu knüpfen. Für die Europawahl ist eine andere Entscheidung getroffen worden. Aber da das nun so entschieden ist, hätte man stärker damit arbeiten müssen. Dazu gehört, dass die Diskussion über Europa im Schulalltag und bei denjenigen, die jetzt erstmals wählen dürfen, stärker verankert werden muss – und zwar nicht als eine national abgeleitete Diskussion, sondern als eine europäische. Es reicht beispielsweise nicht, sich zu denken, was das Baltikum bewegt, man muss die jeweiligen Staaten und Bevölkerungen auch fragen und sich aktiv mit den Antworten auseinandersetzen. Die Komplexität der bevorstehenden Aufgaben muss über die öffentliche Debatte hinaus auch in der politischen Bildung abgebildet werden.

 

Lassen sich die Menschen bei Europawahlen schwerer als bei anderen Wahlen erreichen?

Die Themen sind nicht viel anders als die, die auf nationaler und auf der Ebene der Bundesländer einschließlich der Kommunen diskutiert werden. Das politische System der Europäischen Union funktioniert nur anders, als wir es auf Bundesund Landesebene gewohnt sind. Das ist aber die einzige Hürde, die es gibt, und die Europäische Union ist nicht so kompliziert, wie es gern behauptet wird. Bisweilen ist das auch eine Feigenblattdiskussion, weil man sich wenig mit dem, was die Europäische Union macht, auseinandersetzt oder in der politischen Debatte die eigene Verantwortung – den berühmten „Schwarzen Peter“ – abschieben möchte.

 

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gibt es keine Wahlkreise. Leidet dadurch die regionale Anbindung der Abgeordneten?

Innerhalb der christlich-demokratischen Parteienfamilie haben wir für Deutschland den Ansatz gewählt, zumindest auf der Ebene der Bundesländer zu versuchen, eine möglichst enge Anbindung zwischen Brüssel und dem „Wahlkreis“ zu etablieren. Die Abgeordneten stehen vor allem in der Pflicht, möglichst viele Brücken zwischen Brüssel, Straßburg und dem „Betreuungsgebiet“ zu bauen. Insofern leidet die Anbindung der Europaabgeordneten nicht direkt darunter, dass es keine Wahlkreise gibt. Aber der organisatorische und logistische Aufwand ist beträchtlich.

Ich bin beispielsweise für achtzehn flächengroße Landkreise innerhalb Niedersachsens zuständig. Hinderlich ist daher eher, dass es aufgrund von 42 Sitzungswochen jährlich zu wenig Zeit für die „Wahlkreisarbeit“ gibt. Änderungen wären in diesem Punkt erstrebenswert.

 

Wie ist die Stimmung im Europaparlament und in Ihrer Heimat vor Ort wenige Wochen vor der Wahl?

Im Europaparlament ist die bevorstehende Wahl mit Händen zu greifen. Die Debatten sind noch politischer geworden. Man merkt das an der Schärfe in der Diskussion zwischen den Fraktionen. Auch die sogenannten Schaufensterreden haben zugenommen.

Im „Wahlkreis“ spüre ich, dass aufgrund der Unsicherheiten und Umbrüche, in denen wir uns in Deutschland und international bewegen, das Bedürfnis nach Stabilität und verlässlichen Strukturen größer ist, als dies in den letzten Wahlkämpfen der Fall war. Vor diesem Hintergrund spielen die Themen Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit eine entscheidende Rolle. Das sind Themen, die den Alltag der Menschen berühren; es sind aber auch die Themen, bei denen die Europäische Union vor den größten Herausforderungen steht.

 

Steht Europa vor einer Schicksalswahl?

Ja, absolut! Während wir uns zu Beginn der letzten Legislaturperiode mit dem Austritt eines Mitgliedslandes beschäftigt haben und damit, was das für den Binnenmarkt bedeutet, stehen wir jetzt vor einer existenziellen Frage: Schaffen wir es, Europa als Friedensprojekt aufrechtzuerhalten?

 

Im Europäischen Parlament gibt es derzeit sieben Fraktionen, in denen über 200 nationale Parteien vertreten sind. Wie gelingt da die Bildung von Mehrheiten?

Innerhalb des demokratischen Spektrums müssen immer wieder neue Mehrheiten gesucht werden. Das ist eine andere Arbeitsweise als im Bundestag. Das Motto der Europäischen Union „Einheit in Vielfalt“ ist innerhalb des Parlaments deutlich zu beobachten. Das heißt, man braucht sehr gute Verhandlungsfähigkeiten, zwischenmenschlich viel Gespür für Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Fraktionen und den Parteien innerhalb einer Fraktion.

Darin liegt aber auch die große Stärke der Europäischen Union. Wir haben es auch in tiefen Krisen bisher immer – mal schneller, mal langsamer – geschafft, tragfähige Mehrheiten zu bilden. Zwar haben alle das Bedürfnis, insgesamt schneller zu werden, aber die Kommunikationsfähigkeit über den Tellerrand hinweg ist immer noch der große Zugewinn der Europäischen Union.

 

In Deutschland gibt es bei den Europawahlen keine Sperrklausel. Führt das zu einer weiteren Zersplitterung im Europäischen Parlament?

Ich bin ein großer Anhänger der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Bei der Europarechtsprechung finde ich aber, dass sie manchmal den Kern nicht ganz getroffen hat. Mit der Absage des Bundesverfassungsgerichts an eine Sperrklausel mit der Argumentation, das Europaparlament sei kein Vollparlament, erschwert man, dass das Europäische Parlament effizienter funktioniert. Im Parlament haben wir auch Kleinstparteien bis zu einzelnen Mandatsträgern, die sich noch nicht einmal einer Fraktion anschließen, was die Mehrheitsfindung erschwert. Ich würde es begrüßen, wenn wir zu einer pragmatischen Regelung kommen würden, damit wir ein stabil mehrheitsfähiges Parlament bilden können, das Entscheidungen als Co-Gesetzgeber schnell und effektiv treffen kann.

 

Die Europäische Union will in Zukunft neun weitere Länder aufnehmen. Ist die Europäische Union reif dafür?

Die angespannte geopolitische Lage hat auch Auswirkungen auf die Frage der Erweiterungspolitik der Europäischen Union. Das ist die äußere Dimension. Wir arbeiten aber, und das ist die innere Dimension, immer noch mit Entscheidungsfindungsmechanismen, die aus einer Zeit mit zwölf Mitgliedstaaten stammen. Das funktioniert mit 27 Mitgliedstaaten noch gerade so, jedoch eben auch mit Einbußen bei der Reaktionsgeschwindigkeit und Effizienz der Gesetzgebung. Wenn wir darüber sprechen, weitere Staaten aufzunehmen, müssen wir institutionelle Reformen aktiv angehen, damit wir als Staatengemeinschaft weiterhin handlungsfähig bleiben.

 

Die deutsche Wirtschaft bleibt beim Wachstum auch in Zukunft Schlusslicht in der Europäischen Union. Welche Auswirkungen hat das auf Europa?

Deutschland liegt geografisch in der Mitte der Europäischen Union. Wir haben eine enge Verflechtung zu unseren Nachbarstaaten, knapp neunzig Prozent aller Unternehmen exportieren in den Binnenmarkt. Davon hat die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer stark profitiert. Ein schwächelnder Wachstumsmotor Deutschland hat negative Auswirkungen auf den gesamten europäischen Binnenmarkt. Alle anderen Staaten der Europäischen Union haben deutlich bessere Prognosen und ein zum Teil beachtliches Wirtschaftswachstum. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht dauerhaft abgehängt werden.

 

Lena Düpont, geboren 1986 in Dortmund, seit 2019 Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europäischen Parlament.

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 1. März 2024.

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